Vom 5. Juli bis 6. Oktober 2024 war im Kunstmuseum Graz die erste Einzelausstellung der Künstlerin Azra Akšamijas zu sehen. Zu dieser Spurensuche ist ein informativer und reich bebilderter Katalog erschienen. Azra Akšamija wurde 1976 in Sarajevo geboren. Kurz vor dem Jugoslawienkrieg emigrierte ihre Familie nach Österreich. Sie studierte Architektur und ist heute Professorin und Direktorin des Programms für Kunst, Kultur und Technologie am MIT in Massachusetts (USA), wo sie auch das Future Heritage LAB leitet. Sie stellt international aus, erhielt 2019 den Kunstpreis der Stadt Graz und nahm 2021 an der Biennale in Venedig teil. Azra Akšamija bewegt sich zwischen Handwerk und Kunst, Architektur und Design, Tradition und Innovation. Ihr ist es wichtig, Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Bereichen zu vernetzen und gemeinsam neue Möglichkeiten des Zusammenlebens zu finden.
Der Titel der Ausstellung «Sanctuary» weist auf unterschiedliche Bedeutungsebenen hin. Er kann mit «sicherer Hafen», «Zufluchtsort» oder auch «Heiliger Ort» übersetzt werden, an den man sich flüchten kann – angesichts der grossen Krisen weltweit ein wichtiges Thema.
Was ist uns heilig, was wollen wir schützen? Wie schärfen wir unser Bewusstsein für historische und kulturelle Zusammenhänge? Wie finden wir ein gerechtes, nachhaltiges Gesellschaftssystem? Stets versucht Azra Akšamija das Publikum zum Mitdenken und zur Mitarbeit zu gewinnen. Im eigenen Tun sollen die Menschen ihre Identität als veränderbar erleben, trotz aller kultureller Differenzen das Gemeinsame finden und daraus Kraft schöpfen.
Das grosse Zelt nimmt Raum ein. Es wirkt kostbar und einladend und ist alles andere als ein T-Shelter – eines der standardisierten, behelfsmässigen Unterkünfte, wie sie die UNO jeweils den Flüchtlingen zur Verfügung stellt. Und doch wurde es zu diesem Zweck entwickelt. Der Werktitel setzt sich aus T-Shelter und Serail (arabisch Palast, Residenz) zusammen. Für die Wände werden recycelte Textilien in Gemeinschaftsarbeit zu individualisierten Schutzelementen verarbeitet. Die Betroffenen können ihre Geschichten als individuelles Textilmotive gestalten, einige davon sind im Katalog abgebildet. Am ausgestellten Projekt beteiligten sich syrische Flüchtlinge in Jordanien, Studierende in den USA, den Arabischen Emiraten und in Europa. Menschen verschiedener Kulturen arbeiteten zusammen und tauschten ihr Wissen aus.
Auf einen überdimensionierten Webstuhl sind nach Farben sortierte lange Fäden gespannt. Dafür wurden ausgemusterte T-Shirts in Streifen zerschnitten und diese zusammengeknüpft. Das Weben wird zur Metapher des Zusammenlebens. Die verwendeten Textilien erzählen von den Schwierigkeiten, die hinter jedem Shirt stecken: Wasserverbrauch bei der Baumwollgewinnung, Arbeitsbedingungen bei der Herstellung von Fäden und Stoffen, ebenso die Schnelllebigkeit der Mode. Statt aber nur in negativen Gedanken zu verharren, will der «Sanctuary Loom» Frieden vermitteln, Kulturen verweben, über Muster reflektieren, Altes mit Neuem verbinden.
Auch der textile Turm neben dem «Sanctuary Loom» besteht aus recycelten T-Shirts. «Coring» heisst übersetzt Kernbohrung. Auch er verweist auf die umweltschädlichen Industrien und das Phänomen der Fast Fashion. Der Erde als Zufluchtsort des Lebens muss mehr Sorge getragen werden.
Die Arbeit «Silk Road Works» verbindet architektonische und tragbare textile Elemente und behandelt die Themen Migration, Arbeit und Identität. Sie entstand 2021 für die Biennale in Venedig und bezieht sich auf die Geschichte der Kanalstadt als historischer Schnittstelle zwischen Ost und West, aber auch auf die moderne Seidenstrasse, die noch im Entstehen begriffen ist. In alter wie in neuer Zeit beruht die globale Arbeit auf Ausbeutung. Die Installation enthält architektonische Elemente Venedigs und Seidenstoffe, die der Handelsstadt Reichtum gebracht haben. Die davorstehenden Arbeiter tragen speziell geschnittene Westen, deren Innenseite an islamische Gebetsteppiche erinnern. Die gläsernen Helme spiegeln Sicherheit vor, doch eigentlich zeigen sie nur die Verletzlichkeit des Menschen.
Auf dem Teppich «Flocking» bewegt sich das Ausstellungspublikum weich und geschützt durch den Raum. Die einzelnen Elemente sind aus buntem Filz geschnitten und haben ihre Inspiration in islamischen Ornamenten. Sie können in Hausschuhe umgewandelt werden, die man anstelle der eigenen Strassenschuhe tragen kann. Auch in einer Moschee werden die Schuhe ausgezogen, ebenso in vielen privaten Innenräumen. Die Schuhe auszuziehen ist eine Geste des Respekts und des sorgfältigen Umgangs miteinander.
„Meine Kunst hinterfragt, wie aus Entfremdung Empowerment werden kann.“ (Azra Akšamija, 2018)
Der Katalog beschreibt nicht nur ausführlich alle in Graz gezeigten Arbeiten, sondern enthält auch eine Vielzahl von Essays von Fachleuten aus den unterschiedlichsten Bereichen und ein Interview mit der Künstlerin. Das Buch ist reich bebildert und sorgfältig gestaltet, so dass man es gern als Lese- und Bilderbuch zur Hand nimmt. Es erlaubt, tief in das Denken und die Intentionen von Azra Akšamija einzutauchen.
Text: Christine Läubli unter Verwendung des Pressetextes und der Texte im Katalog.
Buchinformationen:
Sanctuary, Verlag für moderne Kunst Wien, 2024, mit Texten von Azra Akšamija, Zdenka Badovinac, Katrin Bucher Trantow, Negar Hakim, Andreja Hribernik, Alois Kölbl, Johannes Rauchenberger, Christoph Szalay, Alexandra Trost, Elsbeth Wallnöfer, Softcover, 22 x 27 cm, 196 Seiten, 150 farbige Illustrationen, Text in Englisch und Deutsch, ISBN 978-3-99153-136-4
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