«Fremde überall» – das Motto der Biennale Venedig 2024 war nicht nur Titel, sondern auch Denkanstoss. Was ist fremd? Sind es nur die Immigranten, die an unsere Türen klopfen? Oder die vielen Touristen, die zum Beispiel Venedigs Gassen überschwemmen (also auch wir?) Oder steht das Fremde grundsätzlich zwischen allen Menschen? Wie gehen wir damit um?
Für mich war es eine der schönsten Biennalen, die ich schon besuchte, denn die Ausstellungen waren ruhig und überzeugend gestaltet, jedes Werk hatte seinen Raum. Der Begriff «indigen» als Legitimation zur Teilnahme war allerdings etwas gar omnipräsent: Den kolonialen Blick wollte man doch gerade vermeiden? Auffallend häufig sah man textile Arbeiten – hier sind ein paar Kostproben.
Nachdem Batik in den letzten zwei, drei Jahrzehnten bei uns eher in den Hintergrund geraten war, sah man die Technik in dieser Biennale überraschend oft. Besonders gefiel mir die mit grosser Sorgfalt gestaltete Installation von Antonio Jose Guzman & Iva Jankovic. Dahinter steckte die Botschaft, wie sehr unsere Welt von Kolonialismus und Migration geprägt ist. Die Tücher waren nach einer 4000 Jahre alten Methode von Hand mit Indigo gefärbt worden und zeigten gemäss Ausstellungstext abstrakte, interkulturelle DNA-Muster. Die darunter gelegte Klangkulisse spielte auf Ideen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung an.
Die Farben schienen etwas aus der Zeit gefallen zu sein, doch die ruhige Ausstrahlung der Werke nahm gefangen. Die abstrakten Formen fliessen ineinander und sind wie in der Natur aus sich heraus gewachsen. Claudia Alarcón ist Textilkünstlerin aus der Gemeinde La Puntana des Wichí-Volkes im Norden von Salta, Argentinien, und leitet das Kollektiv Silät. Die Frauen gewinnen, verspinnen einheimische Pflanze Chaguar, färben sie mit Pflanzenfarben und gestalten damit wunderbare Bilder. Diese sind weder gewoben, wie im Ausstellungstext beschrieben, noch gehäkelt, wie eine Freundin vermutete, sondern in einer Art Nadelbindung gearbeitet – das Kollektiv spricht vom «yica stitch». Sie beziehen sich auf Träume und Geschichten der Volksältesten, die darüber erzählen, wie schwierig Beziehungen zwischen Menschen und anderen Lebewesen sind. https://www.ceciliabrunsonprojects.com/claudia-alarcon-and-silat-la-biennale-di-venezia/
Eine riesige Installation nahm den gesamten Raum des saudi-arabischen Pavillons ein. Wie eine Blume blätterten sich grossformatige, mit arabischer Schrift wunderschön beschriebene Panels auf. Dahinter steht ein Projekt, in dem Manal AlDowayan über tausend saudische Frauen über deren sich wandelnde gesellschaftliche Rolle befragt hatte. Das Werk verband die klanglichen und geologischen Elemente der Wüste mit den Stimmen der Frauen. Eine poetische und sehr eindrückliche Arbeit!
Die lybische Künstlerin Nour Jaouda trennt Kleidungsstücke und Stoffe auseinander, färbt sie mit Pflanzen und gestaltet mit den Fetzchen Wandteppiche und Skulpturen. Die drei Arbeiten, die in der Biennale gezeigt wurden, basieren auf der Personifizierung von Olivenbäumen durch den palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish. Rund um den Baum kreisen Themen wie Entwurzelung und Widerstandfähigkeit, Zerstörung und Regeneration, Ewigkeit und Göttliches. Wenn wir mit den Textilien respektvoll umgehen, haben auch sie kein Anfang und kein Ende. Die Teppiche verkörpern in ihren Farben und Schichten eine grosse Kraft und Lebendigkeit. Man schaut sie an und in sie hinein wie in innerste Gedanken und Erinnerungen und findet auch zu den persönlichen Wurzeln und zur ureigenen Kraft.
Neben den Hauptausstellungen in den Giardini und der Arsenale bietet die Biennale jeweils verstreut über die ganzen Stadt Venedig Begleitveranstaltungen. Das ist neben dem Kunstgenuss auch eine tolle Gelegenheit, die alten Palazzi von innen zu erkunden.
Die französisch-vietnamesische Künstlerin Karine N'guyen Van Tham und die indische Künstlerin Parul Thacker waren eingeladen worden, ab Februar 2024 in den historischen Räumen des Palazzo Vendramin Grimani zu arbeiten, wobei der Faden als Inspirationsquelle diente. Die daraus resultierende Ausstellung hiess «non perdere il filo» - eine Metapher, die man sowohl textil als auch sprachlich auffassen kann.
Karine N’guyen van Tham webt auf einem kleinen orientalischen Webstuhl, färbt oder bemalt die Stoffe mit Naturfarben und vernäht sie zu skulpturalen Objekten. In der Kombination mit Schuppen von Kieferzapfen erschuf sie Panzer, Helme, Kleidungsstücke, als müsste sie sich vor der Vergangenheit und der Zukunft schützen. Obwohl sie bei der Bearbeitung der Stoffe nicht zimperlich vorgeht, erreicht sie eine feinfühlige Poesie.
Parul Thrakers bezieht sich auf indische Tempel, Tantra-Kosmologien und Quantenphysik. Besonders sprach uns die Installation in der unteren Eingangshalle mit 18 grossformatigen, handbestickten Seidenorganza-Tüchern an, untermalt von Klängen des alten indischen Saiteninstrumentes Rudra Vina, welche das Gurgeln des Canale Grande in Venedig und jenes der Arktischen See verbanden. Die zarten Stickereien, die leise Bewegung der Stoffe und die Musik weckten die Phantasie von kostbar gekleideten und mit Gondeln ankommenden vornehmen Venezianer aus alter Zeit – der Gast, das Fremde ist hier willkommen!
Text und Fotos. Christine Läubli
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