Zurzeit ist im Tinguely-Museum Basel eine Ausstellung zu sehen, die aufgrund von verschiedenen Forschungen zeigt, dass das Fadenspiel seit alters her auf der ganzen Welt und in unterschiedlichem Kontext präsent ist. Wer sie besucht, sollte Zeit und gute Englischkennnisse mitbringen – es gibt viel zu lesen (deutsch und englisch) und eine grosse Zahl Videos in Englisch ohne Untertitel. Neben viel Theorie finden sich dann aber auch bunte Fadenschlingen, mit denen man selber aktiv werden kann – mit und ohne Anleitung.
David Ket’acik Nicolai aus Anchorage (AK) empfängt uns auf der Videoleinwand. Der Ingenieur hat das Fadenspiel von seinem Vater und seiner Grossmutter gelernt und demonstriert, wie virtuos er von einer Figur zur nächsten wechseln kann und wie reich sein Figurenschatz ist. Seine Fadenspiele sind nicht nur erzählerisches Kulturerbe, sondern enthalten auch eine moralische Komponente. Als Yu’pik Dave teilt er sein Können auf Tik Tok.
In der Ethnologie galten Fadenfiguren lange Zeit als Universalspiele. Da sie an vielen Orten der Welt anzutreffen sind, speisten sie Phantasien eines Kulturvergleichs, der Rückschlüsse auf Migrationsrouten oder auf das universell Menschliche ermöglichen sollte. Europäische und amerikanische Ethnologen sammelten seit dem 19. Jahrhundert Fadenfiguren und speicherten sie als Kartonmontage, Zeichnungen oder Fotos ab. Da diese Sammlungen aber keine Rückschlüsse auf die Herstellung der Figuren erlaubten, begannen die Wissenschaftler, auch Filme zu drehen. In den letzten Jahren hat das Fadenspiel in der Kulturtheorie an Bekanntheit gewonnen. Donna Haraway propagiert string figures als Methode für interdisziplinäres Denken und Zusammenarbeiten. Im Gegensatz zur Metapher des Netzwerkes bietet sie eine spielerische, prozessorientierte und verkörperte Denkfigur, bei der Verantwortung füreinander im Mittelpunkt steht.
Im Australian Museum in Sydney befinden sich 193 montierte Fadenfiguren, die 1948 vom Museumsethnologen Frederick McCarthy in Yirrkala im Nordosten von Arnheim Land gesammelt wurden. Siena Miḻkiḻa Stubbs Weichgrundradierungen verbanden die Figuren wieder mit McCarthys Sammlung und ermöglichte es der Yirrkala-Gemeinschaft, die Fadenspiele als Teil ihrer kulturellen Identität neu zu entdecken. Indem die Figurenbilder zur Kunst wurden, traten sie in einen kulturübergreifenden Kontext ein.
Das Fadenspiel ist auch in der Kunst präsent. Die Experimentalfilmerin Maya Deren nahm den in die USA emigrierten Künstler Marcel Duchamp auf, just nachdem dieser kilometerlange Fäden in seinem surrealistischen Ausstellungsdesign verbraucht hatte. Andy Warhol filmte in einem seiner Screen Tests Harry Smith, Grenzgänger zwischen Folklore und Kunst, beim Fadenspiel. Maureen Lander wiederum dekolonialisierte Duchamps Boîte-en-valise, indem sie sein berühmtes kleines Koffermuseum mit Fotografien von Maori-Fadenspielen neu bepackte (siehe Abb. 1).
Toby Christian gab der KI Stringer die Stichwörter «Teufelshörner», «Eiffelturm» und « Zauberknoten» ein, worauf diese eine digitale Fadenskulptur «gestaltete». «Stringer ist eine KI, die keine Antworten gibt, sondern die Hand ausstreckt und dich an einen anderen Ort einlädt, einen Ort, den du nicht kennst. Sie nimmt einen Dialog mit dir auf und bezieht dich in die Konstruktion der Bedeutung mit ein...» Wieviel Poesie steckt doch in der kalten Computertechnik!
Wunderschön und einfach ist ein Film von Hans-Ruedi Haefelfinger aus dem Jahr 1975, den Katrien Vermeire bei ihren Recherchen aufstöberte. Er zeigt in die Nichten des Filmemachers, Ruth und Gertrud Beringer, bei Basler Fadenspielen. Vollkommen vertieft in das Spiel strahlen die beiden Mädchen eine grosse Ruhe und Konzentration aus. Der s/w-Film beschränkt sich auf das Wesentliche: einfach nur Eleganz und Ästhetik von Händen, Fingern und Schnur! Der Film weckt eigene Erinnerungen an ein Spiel, das die Kindheit begleitet hat. Nach dem Rundgang durch die Ausstellung sehen wir es nun in einem grösseren Zusammenhang.
Text: Christine Läubli unter Verwendung des Pressetextes
Fotos: Museum Tinguely
Informationen:
Museum Tinguely
Paul Sacher-Anlage 1
4002 Basel
Öffnungszeiten: Di – So 11-18 Uhr, Do 11-21 Uhr
Kuratiert von Mario Schulze und Sarine Waltenspül, Co-Kurator Andres Pardey
Begleitend zur Ausstellung erscheint eine englischsprachige Publikation (256 S.) mit zahlreichen Farbabbildungen und Beiträgen von Paul Basu, Mareile Flitsch, Ute Holl, Ines Kleesattel, Adam Piron und vielen anderen bei Diaphanes, erhältlich ab Februar 2025 im Museumsshop und Buchhandel für 40 CHF.
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