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Textile Manifeste – vom Bauhaus bis Soft Sculpture

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Corinne Odermatt, Ther’s a Crack in Everything, 2021, Stoff, Acryl, Polsterung, Foto: Carlos Isabel Garcia, ©Corinne Odermatt
Corinne Odermatt, Ther’s a Crack in Everything, 2021, Stoff, Acryl, Polsterung, Foto: Carlos Isabel Garcia, ©Corinne Odermatt

Bis am 13. Juli 2025 zeigt das Museum für Gestaltung eine opulente Textilkunst-Ausstellung mit rund 60 Werken aus den letzten hundert Jahren. Das weiche Material zeigt sich in seiner ganzen Vielfalt und versammelt die unterschiedlichsten Blickwinkel. Ob früher oder heute: Themen liegen in der Luft, Kunstschaffende erforschen, nehmen Stellung, suchen Begründungen und formulieren Manifeste.





Ulrike Kessl, Nylons in Space, 2025, Nylonstrümpfe
Ulrike Kessl, Nylons in Space, 2025, Nylonstrümpfe

Je eine riesige Installation empfängt das Publikum vor und im Haus. Ulrike Kessl (1962) hat sie eigens für das «Textile Manifest» gemacht. Die deutsche Künstlerin bespielt den Eingang im Freien und ergründet den Himmel des Ausstellungsraums. An beiden Orten spannt sie hoch oben durch die Lüfte ein buntes, fröhliches Ballett von Nylonstrumpfhosen. Damit ermöglicht sie einen neuen Blick auf das Bauhaus-Gebäude aus den 1930er Jahren.

Der Gang durch den Mittelteil des Ausstellungsraumes führt von der Bauhauszeit zur Moderne durch die Geschichte der Textilkunst. Jahreszahlen an den Säulen machen klar, in welcher Epoche man sich befindet. Die violett gestrichenen seitlichen Gänge widmen sich speziellen Kapiteln, grosse Beschriftungen am Boden zeigen die Wechsel von einem zum nächsten an. Im Gegensatz zum «Textilen Garten» (Museum für Gestaltung 2022), der fast nur in die Vergangenheit blickte, begegnet man diesmal Künstlerinnen aus fast allen Generationen – die Babyboomer sind auffallend untervertreten.

 

Lilly Keller, Objekte, 5. Juni 91, Polyurethan
Lilly Keller, Objekte, 5. Juni 91, Polyurethan

Lilly Keller (1929 – 2018) suchte ihren eigenen Weg in der Kunst. Nachdem sie mit grossflächigen, abstrakten Tapisserien nicht nur Erfolg, sondern auch viel Unverständnis erntete, webte sie 1984 ihr letztes Gewebe und entsorgte den Webstuhl: «Ich hätte weiter gewoben, aber ich stiess nur auf Widerstand. Ich war voller Wut». Weil sie sich als Frau und Textilkünstlerin doppelt unsichtbar fühlte, übergoss sie gekaufte Teppiche mit Farbe im Camouflage-Muster und wandte sich anderen künstlerischen Techniken zu. Dies war ihr Endmanifest als Textilkünstlerin.

 

Jeanne-Odette, Miroir interférentiel, 1977, Double-Face Interferenzgewebe, Wolle
Jeanne-Odette, Miroir interférentiel, 1977, Double-Face Interferenzgewebe, Wolle

Jeanne-Odette (*1930) hat im Laufe ihres langen Lebens bedeutende und raumgreifende Wandteppiche geschaffen und war mit vielen der im «Textilen Manifest» ausgestellten Textilkünstlerinnen noch persönlich bekannt. In den 1970er Jahren entwickelte sie auf der Suche nach einer neuen Leichtigkeit ihre eigene Webtechnik. Das Werk «Miroir interférentiel» ist ein Double Face-Gewebe, dessen spiegelförmiger Mittelteil zwischen Naturweiss und Braun changiert. Die Kettfäden sind nur ab und zu durch einen Schuss befestigtet und wechseln in grossen Abständen zwischen der oberen und der unteren Lage. So entsteht ein faszinierendes Farbenspiel.

 




Dominique Lanz, Straftifications, 2019, Stoffreste verleimt, Digitalschneide-Verfahren
Dominique Lanz, Straftifications, 2019, Stoffreste verleimt, Digitalschneide-Verfahren

Dominique Lanz (*1995) klebt Second hand-Restmaterialien aufeinander und schneidet mit Laser-Cut feine Karomuster ein. Stellenweise entfernt sie obere Schichten und legt untere frei. Die kleiderartigen Objekte verwendet sie für Performances, in deren Verlauf sich die «Gewebe» stark abnutzen. Die Werkreihe enthält somit das Element «Zeit» auf verschiedenen Ebenen: Nach einem ersten Leben als Kleid gab ihnen Dominique Lanz ein zweites, indem sie die Textilien zu neuen Outfits umgestaltete. Die Performances machten die Vergänglichkeit noch weiteres Mal durch Abnutzungsspuren sichtbar. Die Künstlerin weist auf die heutige Überproduktion der Textilien hin, auf unsere überquellenden Kleiderschränke und die Problematik der Entsorgung.

 


Stephanie Baechler / Klasse Gerrit Rietveld Accademie, Amsterdam NL, Alphabet Imaginaire, 2020 - 2021
Stephanie Baechler / Klasse Gerrit Rietveld Accademie, Amsterdam NL, Alphabet Imaginaire, 2020 - 2021

Stéfanie Baechlers (*1983) Arbeit pendelt zwischen Textil und Keramik und untersucht gesellschaftsrelevante Themen. Zusammen mit Studenten der Gerrit Rietveld Accademie Amsterdam entwarf sie ein imaginäres, bildhaftes Alphabet. Mit den Zeichen erprobte die Klasse unterschiedliche Materialien und Stickstiche und brachte hernach den Variantenreichtum auf eine Stoffbahn. Die Länge der Bahn und jene der einzelnen Stickstiche sind auf eine industrielle Stickmaschine abgestimmt. Im Hintergrund der Arbeit hängen als Referenz berührende alte Stickmustertücher, wie sie unsere Mütter und Grossmütter noch ausführen mussten.

 

 Marie Schumann, Monofil Fold – rosé green, 2022
Marie Schumann, Monofil Fold – rosé green, 2022

Marie Schuhmann (*1991) ist wohl eine der innovativsten Textilkünstlerinnen der Gegenwart. Für diese Werkreihe lässt sie auf einem industriellen Webstuhl in Appenzell Jacquardgewebe herstellen. Da die Materialien verschieden stark schrumpfen, entstehen Verwerfungen. Obwohl ein grosser Teil des Prozesses digital stattfindet, handelt es sich am Ende um ein haptisches, ausdrucksstarkes Textil. Die ausgestellte «Landschaft» mit Höhen und Tiefen in zarten, aber warmen grün und rosa Tönen ist von geheimnisvoller Poesie.

 

Abb. 8 Estelle Bourdet, Échantillon Cordée, 2023, Baumwolle, Polyamid (Kletterseil), gewebt, Foto: Umberto Romito & Ivan Šuta, Museum für Gestaltung Zürich / ZHdK, ©Estelle Bourdet
Abb. 8 Estelle Bourdet, Échantillon Cordée, 2023, Baumwolle, Polyamid (Kletterseil), gewebt, Foto: Umberto Romito & Ivan Šuta, Museum für Gestaltung Zürich / ZHdK, ©Estelle Bourdet

Estelle Bourdet (*1990) erforscht in ihrer Arbeit das Handwerk der Textilherstellung und sucht es mit der Gegenwart zu verbinden. Sie verwendet langsame, analoge Techniken und nachhaltige Materialien. In der Ausstellung zeigt sie gewebte Experimente und Unikate mit Kletterseilen als Schuss, sowie einen grossen Raumteiler, in den sie gebrauchte, in Streifen geschnittene Tischtücher und Decken in der Art von Flickenteppichen eingewebt hat. Ihre monumentalen Arbeiten zeugen von einer grosse Experimentierlust und Farbenfreude.



Abb. 9 Stefanie Salzmann, Growing Towards the Light, 2003, Wolle, teilweise gefilzt, gefärbt, verflochten, Foto: Monika Franz Svozil
Abb. 9 Stefanie Salzmann, Growing Towards the Light, 2003, Wolle, teilweise gefilzt, gefärbt, verflochten, Foto: Monika Franz Svozil

Stefanie Salzmanns Eltern züchten im Wallis Schwarznasenschafe. Statt die Wolle wegzuwerfen, untersucht die Tochter (*1986) die Eigenschaften des Materials. Sie färbt mit Pflanzen, filzt und knüpft monumentale Wandteppiche und Skulpturen. Der Weg der Wolle vom Tier zum künstlerischen Objekt ist einerseits harte, körperliche Arbeit, andererseits Seelennahrung. Der zeitintensive Umgang mit den Pflanzen, Farben und der gefilzten Wärme schaffen einen eigenen Raum der Zeit. Das ausgestellte Teppichobjekt erinnert an ein Schaffell der ersten Babymonate, eine Lebenslandschaft, durch die verknäuelte Wege über Höhen und Tiefen führen.

 





Urheberschaft unbekannt, Bakuba CD, Kuba-Matten, 19. Jh. Stickerei und Schnittflor auf Raffiagewebe
Urheberschaft unbekannt, Bakuba CD, Kuba-Matten, 19. Jh. Stickerei und Schnittflor auf Raffiagewebe

Neben europäischen Objekten sammelte die Kunstgewerbeschule Zürich im Lauf der Jahre auch solche aus Übersee. Die Exponate dienten als Anschauungsmaterial und Inspirationsquelle. Feinste Doppelgewebe aus Peru rufen Bewunderung hervor, bestickte Raffia-Gewebe aus dem Kongo nehmen durch ihre archaische Musterwelt gefangen. Heute steht die Frage im Raum, ob und wie weit wir uns mit solchen Praktiken des Übergriffs auf fremde Kulturen schuldig machen. Wie gehen wir mit dem Fremden um? Schon immer hat man sich über kulturelle Grenzen hinweg gegenseitig beeinflusst und inspiriert; dies brachte die Menschheit auch weiter. Problematisch wird es dann, wenn Sorgfalt und Respekt fehlen und ein Machtgefälle ausgenutzt wird.



Verena Brunner, Anna-Maria Weber, Freis 1993, Nylon, Seide, Sisal, gewebt
Verena Brunner, Anna-Maria Weber, Freis 1993, Nylon, Seide, Sisal, gewebt

Pendelnd zwischen Material und Poesie entwickelte Verena Brunner (*1945) zusammen mit der Malerin Anna-Maria Weber dieses wunderbare Gewebe. Die beiden Künstlerinnen spielen mit farblosem Nylon, zarten Seidenfäden und sperrigem Sisal und «malen» ein Gemälde von ineinandergreifenden, flirrenden Farben. Staunend folgt man den zarten Farblinien und -übergängen. Unzählige Lagen scheinen sich zu durchdringen. Wo sind Anfang, Ende, was entstand aus Absicht, aus Zufall?








 

Verena Sieber-Fuchs, Feldschlössli am Boden, 2000, Blech Inoxdraht, gestrickt
Verena Sieber-Fuchs, Feldschlössli am Boden, 2000, Blech Inoxdraht, gestrickt

Verena Sieber-Fuchs (*1943) besuchte die Textilklasse an der Kunstgewerbeschule Zürich bei Elsi Giauque. Sowohl ihre kleinen Experimente als auch die grossen Raumobjekte belegen eine grosse Lust am Spiel mit Materialien. Es reizt sie, «aus Wertlosem Wertvolles zu machen». Ob Schnipsel von Jasskarten, kleine Nummernetiketten, zerschnittene Blisterverpackungen oder gesammelte Verschlussdeckel – zusammengefügt ergeben die Bausteine ein poetisches Bild voll Witz und Überraschung.

 








Abb. 13 Lissy Funk, Kleine Liebeserklärung, 1989, Foto: Umberto Romito & Ivan Šuta, Museum für Gestaltung Zürich / ZHdK, ©Rosina Kuhn
Abb. 13 Lissy Funk, Kleine Liebeserklärung, 1989, Foto: Umberto Romito & Ivan Šuta, Museum für Gestaltung Zürich / ZHdK, ©Rosina Kuhn

Material- und Technikübungen aus den Klassen Gunta Stölzl am Bauhaus, Elsi Giauque und Heinrich Otto Hürlimann an der Kunstgewerbeschule Zürich belegen, wie sorgfältig und experimentierfreudig das Wissen auf dem kunsttextilen Gebiet weitergegeben und entwickelt wurde. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht Elsi Giauque, die ihre Schülerinnen grundlegende Gestaltungsprinzipien lehrte und deren Einfluss auf die Textilkunst unbestritten ist. Ihre eigenen Werke aber haben die Zeit weniger frisch überdauert als etwa solche von Lissy Funk oder Magdalena Abakanovicz, die noch heute zutiefst berühren. Auch andere Künstlerinnen aus der alten Garde des 20. Jahrhunderts wie Anni Albers, Gunta Stölzl, Sheila Hicks, Sophie Taeuber-Arp, Moik Schiele überzeugen mit zeitlosem Ausdruck.

Das «Texile Manifest» zeigt eine reiche Facette der Textilkunst und eine überwältigende Vielzahl an hochkarätigen Werken. Leider haben viele Exponate zu wenig Platz, um sich voll entfalten zu können. Auch die Ziele der Ausstellung sind nicht ganz klar. Wie schon im «Textilen Garten» von 2022 hätte eine Beschränkung gutgetan. Abgesehen von dieser Kritik lohnt sich der Besuch aber auf jeden Fall.

 

Text: Christine Läubli

Fotos: Christine Läubli (Falls nicht anders angegeben)


Dieser Artikel erscheint gleichzeitig in einer etwas kürzeren Form im Magazin «Textilforum» 2/25

 

Infos:

Textile Manifeste

Museum für Gestaltung Zürich

14. 2. bis 13. 7. 2025

Ausstellungsstrasse 60

8005 Zürich

Öffnungszeiten: Di bis So 10-17 Uhr, Do 10 – 20 Uhr


 
 
 

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